Reaktivierung von Strecken – Wo der Zug längst nicht mehr abgefahren ist

Die Eisenbahn ist eine der wichtigsten und vor allem umweltfreundlichsten Fortbewegungsmöglichkeiten, sowohl im Nah- als auch im Fernverkehr. Entsprechend sinnvoll ist das erklärte Ziel der Bundesregierung, im Zuge ihrer Klimaschutzpläne die Fahrgastzahlen im Fernverkehr in den kommenden Jahren zu verdoppeln. Doch während der Nahverkehr bspw. durch S-Bahnen, Trams oder U-Bahnen seit Jahrzehnten fleißig ausgebaut wird (z. B. in München, Karlsruhe, Berlin, Stuttgart, Frankfurt, etc.), hat das Zugnetz der Deutschen Bahn durch Stilllegung beinahe 16% seiner Gesamtlänge verloren. Die Reaktivierung dieser einst stillgelegten Strecken stellt einen Kernaspekt der Kapazitätssteigerung im Bahnverkehr dar. Dabei werden alte Gleise wieder auf den neuesten Stand der Technik gebracht, elektrifiziert, mit neuen Haltepunkten versehen und an das bestehende Streckennetz angeschlossen.

Reaktivierung von Strecken – Übersicht

Welche der alten Bahnstrecken besonders geeignet für eine Reaktivierung sind, hat der Verband der Deutschen Verkehrsunternehmen (VDV) in zwei umfangreichen Positionspapieren zusammengetragen. Das erste Papier gibt einen Überblick über die stillgelegten Strecken, bei denen sich bundesweit besonders eine Reaktivierung lohnt. Das zweite Papier konkretisiert dieses Vorhaben und fokussiert sich dabei besonders auf Regionen, die heute kaum oder gar nicht an das Schienennetz angeschlossen sind.

Grundlegender Vorteil der Streckenreaktivierung ist, dass bauliche Maßnahmen deutlich geringer ausfallen als bei einem vergleichbaren Neubau. Die Schienentrassen liegen bereits im Boden und müssen oftmals nur ertüchtigt und elektrifiziert werden. Es bedarf keiner langfristiger Raumplanung um die perfekte Trassenführung zu ermitteln. So birgt die Reaktivierung aus planerischer, baulicher und somit auch aus Sicht des Umweltschutz fast ausschließlich Vorteile. Auch wurden Trassen vorgeschlagen, die nicht im Konflikt mit anderen klimafreundlichen Verkehrsmitteln stehen. Stattdessen wird der Ausbau der Bahn zusammen mit dem Busverkehr in den Mittelpunkt gerückt, sodass Verkehrssysteme entstehen, die sich gegenseitig ergänzen und gemeinsam die Attraktivität des gesamten ÖPNV steigern können.

Spezialfall Güterverkehr

Während bei diesen Diskussionen meist der Personenverkehr im Vordergrund steht, um die Menschen vom Auto auf Bus und Bahn umsteigen zu lassen, gibt es noch einen anderen wichtigen Bereich: den Güterverkehr. In Zeiten, in denen selbst die Deutsche-Bahn-Tochter DB Schenker beinahe genauso viele Kilometer von ihren vielen Diesel-Lkw bewältigen lässt wie von ihren Zügen, ist die Förderung des Güterverkehrs auf der Schiene mehr als überfällig. Da jedoch in der Bundespolitik die Förderung von Schienenstrecken für den Personenverkehr im Mittelpunkt steht, bleibt die Finanzierung der Reaktivierung von Güterverkehrsstrecken oft eine offene Frage. Hier muss der Bund nachbessern, sonst müssen Länder und Kommunen einspringen.

Gerade Industriegleise, welche innerhalb von Gewerbegebieten und größeren Industrieanlagen  Güter transportieren, jedoch heute oft brach liegen, können eine Infrastrukturlücke füllen. So gibt es in einigen Städten und Regionen Initiativen, diese alten Gleise wiederzubeleben und somit viele Lkw-Fahrten im und um die Stadtgebiete zu sparen (z. B. in Heidenheim, München und Hessen).

Beispiele aus dem Ländle

In Baden-Württemberg stehen beispielsweise verschiedene Streckenabschnitte zur Diskussion. Dazu gehören diverse historische Strecken, die mehrere Lücken in der Infrastruktur schließen können wie bspw. die Strecke zwischen Stockach und Mengen/Sigmaringen, die einst schon im 19 Jahrhundert von der Badischen Staatsbahn befahren wurde oder die Bottwartalbahn der ehem. Württembergischen Staats-Eisenbahnen zwischen Marbach und Heilbronn.

Die Reaktivierung bietet auch die Möglichkeit zur Erweiterung bestehender Stadtbahnnetze wie der Anschluss von Graben-Neudorf an das Karlsruher Straßenbahnnetz. Gleichzeitig können so auch Gemeinden an das Schienennetz angeschlossen werden, die derzeit gar keinen oder  keinen regulären Bahnanschluss verfügen. Dazu gehören Gemeinden wie Künzelsau, Pfullendorf oder Schömberg.

Besonders spannend sind auch Strecken, welche die europäische Idee verkörpern. So können bestehende Trassen von Rastatt nach Hagenau oder von Breisach nach Colmar die deutsch-französische Freundschaft auch im Nahverkehr aufleben lassen. Am Beispiel der Strecke Rastatt-Hagenau, wo sogar die Eisenbahnbrücke über den Rhein heute noch existiert, jedoch als Autobrücke genutzt wird, lässt sich gut erkennen, dass der Aufwand einer Reaktivierung durchaus überschaubar bleibt.

Die Nachfrage ist da

Bisher gibt es vorwiegend positive Erfahrungen mit ehemals stillgelegten Gleisabschnitten, die in den letzten Jahren wieder reaktiviert wurden. Das macht Mut und motiviert, diese Strategie noch intensiver weiterzuverfolgen.

Der Ausbau des Nah- und Fernverkehrs ist ein wichtiger Bestandteil auf dem Weg zur Klimaneutralität im Verkehrssektor. Es ist viel einfacher, das bestehende elektrifizierte Schienennetz mit CO2-neutralem Strom zu versorgen als die vielen Teilnehmer des Individualverkehrs, die bspw. auch eine aufwendige Lade- und Batterieinfrastruktur benötigen. Die Reaktivierung von Bahnstrecken ist eine wichtige Teilmaßnahme, um ländliche Regionen infrastrukturell besser anzubinden und allgemein aufzuwerten.

Es ist aus all diesen Gründen sehr begrüßenswert, dass die Regierung dieses Potential zumindest in Teilen erkannt hat und angeht. Aber da geht noch mehr.